25 Jahre Full Throttle

Vor 25 Jahren erschien Vollgas, so der deutsche Titel des Grafik-Adventure von LucasArts. Warum es sich trotz durchwachsener Kritiken um ein Meisterwerk handelt, besonders auch im Hinblick auf Bildkomposition, Pixel-Art und Animation, sollte ich erst viel später erfahren.

Außenseiter

Ich war Teenager, als Full Throttle am 30. April 1995 erschien. Motorräder, Outlaws, Heavy Metal und Action-Sequenzen – Das hätte mein Spiel sein müssen. War es zunächst jedoch nur bedingt.

Zugegeben, ich war ein LucasArts Fan-Boy, hatte alle vorherigen Scumm-Adventure mit großer Begeisterung gespielt. Von Maniac Mansion bis Sam & Max. Wochenlang habe ich an den kniffligen Rätseln gesessen, vor den Rätsel-Ketten von Monkey Island 2 und Day of the Tentacle möchte ich heute noch niederknien. Hab mich platt gelacht über den Humor und die schrägen Animationen. Full Throttle war anders. Ein ewig langes Intro, zahlreiche, endlos lange Zwischensequenzen, unterbrochen von öden Action-Sequenzen und nur selten längere Passagen für gewohntes Rätzeln.

Ja, Action-Sequenzen …, seufz. Ich mochte zwar Action-Spiele, keine Frage, hatte sogar Rebel Assault recht gern gespielt. Dass nun aber ausgerechnet ein LucasArts Point & Click Adventure auf diesen Zug aufspringen musste, nur weil mit der INSANE-Engine die Technik im Studio vorhanden war, schwer zu verstehen für mein damaliges Ich. Aus heutiger Sicht merkwürdig, den bei Indiana Jones and the last Crusade und Fate of Atlantis, wo Action-Szenen thematisch ähnlich gut gepasst haben, hatten diese mich gar nicht gestört.

Die Action-Szenen verwenden die gleiche Technologie wie Rebel Assault, sind jedoch repetitiv und oft nur durch Trial & Error zu meistern.

Wie auch immer. Die Action mochte ich nicht. Die Rätsel waren leicht. Die Geschichte plätscherte so vor sich hin und das Ende war schnell erreicht. All das sorgte für eine Einsortierung im unteren Bereich meiner Liste der liebsten LucasArts-Adventure.

Erneuerung

Ein paar Jahre später sah das dann schon anders aus. Mit ein wenig zeitlichem Abstand und der Möglichkeit der Einordnung des Spiels in die Videospielgeschichte änderte sich meine Meinung und ich erkannte die Besonderheiten des Spiels, sowohl mit Blick auf Spieldesign als auch auf die Technik.

Denn obwohl das Spiel wirklich recht kurz ist, war es eines der teuersten und ehrgeizigsten Spiele, die LucasArts bis dahin produziert hat. Das lag vor allem an der Eröffnungs-, den Zwischen- und den Actionsequenzen, für die 3D-Modellierung und -Rendering sowie die neuste Streaming-Video-Technologie zum Einsatz kamen.

Minutenlange Zwischensequenzen mit gerenderten 3D-Objekten und die Integration der hauseigenen INSANE-Technologie in SCUMM verschlangen viel Zeit und Geld.

Wie kam es dazu? Nun, als das Konzept zu Full Throttle entwickelt wurde, etwa nach dem Abschluss von Day of the Tentacle Mitte bis Ende 1993, war das Adventure-Genre auf dem Zenit. Andere Genres gewannen aber an Popularität (z.B. 3D-Shooter wie Doom) und auch der Adventure-Markt war hart umkämpft und das Publikum (oder die Marketingabteilung) lechzte nach dem Einsatz der neusten Technologie (FMV, 3D-Rendering, Realtime-3D, etc.). Und während die Verkaufszahlen der LucasArts-Adventure stets hinter denen des großen Konkurrenten Sierra zurück blieben, brachen nun auch noch neuartige, vom klassischen Adventure abweichende Spiele wie The 7th Guest oder Myst alle Verkaufsrekorde.

Ein neuer Ansatz musste her. Ziel war es nun, ein ernsteres, filmischeres Spiel zu schaffen, ohne den typischen Humor zu verlieren. Auf dem neusten Stand der Technik. Eben hatte man diese unglaublich tolle und teure Streaming-Engine für Rebel Assault gebaut. Damit wollte man das eigene Adventure-Universum erneuern. Tim Schafer bekam für eines seiner Konzepte grünes Licht und die Entwicklung von Full Throttle begann.

Rebel without a cause

Und so kam nun die für Rebel Assault entwickelten INSANE-Engine (INteractive Streaming ANimation Engine) zum Einsatz, die es durch eine eigene Videokomprimierungstechnologie ermöglichte, qualitativ hochwertige Vollbildvideos auch in den Hi-Res Grafik-Modi des DOS-PC flüssig darzustellen, so dass diese sowohl für Zwischensequenzen als auch als ablaufende Hintergründe für interaktive Spielszenen einsetzbar waren. Bei Full Throttle wurden damit die Action-Sequenzen umgesetzt und viele Zwischensequenzen.

Integration der INSANE-Engine

Die Integration der INSANE-Engine in die SCUMM-Engine war schwierig, da beide Programme ihre eigenen Aufrufe an den Prozessor und die Mittel zum Umgang mit Daten hatten. Die SCUMM-Engine wurde so überarbeitet, dass sie Multi-Tasks ausführen und alle Zustände in ihrem Speicherbereich halten konnte, während INSANE für eine Action-Sequenz hochfuhr, seine eigenen Speicherplätze zugewiesen bekam, ablief und wieder heruntergefahren wurde.

Die Verwendung der INSANE-Engine verursachte auch Probleme in der Kunstabteilung. Die Engine war „fotorealistisch“ konzipiert. Als die Kunstteams Peter Chans Zeichnungen als Texturen über den 3D-Hügeln platzierten, sah das Wüstengelände im Gegensatz zum Rest der Spielwelt übermäßig realistisch aus. Das überrenderte Terrain sowie andere Funktionen (wie Parallaxing Sky und Datenflüsse) wurden dann verkleinert, um eine kontinuierliche Spielwelt zu schaffen.

Das Interface wurde ebenfalls erneuert. Bis zu Day of the Tentacle kam stets das berühmte Verb-Interface zur Anwendung (Loom ausgenommen), welches erst für Sam & Max durch ein Sierra-ähnliches Icon-Interface ersetzt wurde, bevor man nun in Full Throttle ein Interface einführte, dass erst nach Klick erscheint und kontext-sensitiv drei Möglichkeiten zur Interaktion bietet: Anschauen, Nehmen + Benutzen und … Treten. Ja, Treten! Wie großartig ist das denn? Sehr passend zum Setting muss der Protagonist Ben des Öfteren etwas eintreten, umhauen oder einfach nur Gewalt anwenden.

Statt Verb-Interface zeigt Full Trottle ein Coin-Interface mit 3 Interaktionsmöglichkeiten.

Geklotzt wurde auch beim Sound. Während in anderen Computerspielen der damaligen Zeit oft interne Talente für Synchronstimmen genutzt wurden, setzte LucasArts auf eine professionelle Vertonung mit Synchronsprechern und Schauspielern, darunter Mark Hamill als Adrian Ripburger. Der Soundtrack wurde gleich exklusiv von der Biker-Band Gone Jackels aus San Francisco für das Spiel geschrieben und auch auf CD veröffentlicht und passte natürlich perfekt zum Thema und zum Setting.

The Gone Jackals – Soundtrack CD zum Spiel

Als das Spiel am 30. April 1995 veröffentlicht wurde, hatte es nach einer Produktionszeit von eineinhalb Jahren rund 1,5 Mio US-Dollar verschlungen. Wegen der hochwertigen Produktion und der Unmengen an gerenderten Filmsequenzen, war es das erstes LucasArts-Adventure, das nur auf CD-ROM erscheinen konnte. Für Disketten war der Umfang einfach zu groß.

Die Spielepresse nahm den Titel mit gemischten Gefühlen auf. Von „Meisterwerk“ bis „Verrat an den eigenen Idealen“ war alles dabei. Der geringe Schwierigkeitsgrad und die kurze Spielzeit wurden am meisten kritisiert, das filmische Erlebnis, die Animationen, die Charaktere und deren Geschichte kamen gut an.

Die gewünschte Erneuerung fand teilweise statt und dem kommerziellen Erfolg tat das gut. Die interne Zielsetzung für Mindestverkaufszahlen für Adventure-Spiele lag bei 100.000 Kopien. Vollgas brach diese Marke locker durch den Verkauf von über einer Million Einheiten – als erstes LucasArts-Adventure überhaupt.

Meisterwerk? Meisterwerk!

Was macht Full Throttle nach meinem Verriss im ersten Abschnitt nun doch zu einem Meisterwerk? Der Stil? Das Design? Die Qualität? Die Production Values? Die Story? Ja. Alles. Und die Zeit.

Die Designentscheidungen im Zeitkontext und die allgemeine Zeitlosigkeit, die dieses Spiel umgibt. Es gibt noch immer Rocker und Outlaws und den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung. Es wird noch immer falsch beschuldigt und die falsch Beschuldigten suchen nach Gerechtigkeit. Konzerne und ihre Entscheidungen für das Kapital und gegen Menschlichkeit und Tradition sind täglich zu beobachten, Idealismus wird noch immer von Habgier bekämpft. Es wird noch immer betrogen. Die Themen, die Tim Schafer in seinem Adventure 1995 entwarf, sind zeitlos.
Und auch die Charaktere fallen nicht aus der Zeit. Der mürrische Hauptcharakter Ben ist auf seine raue Art sympathisch und ein würdiger Held dieses Abenteuers, die Frauenfigur Maurice erfreulich stark und wenig klischeehaft gezeichnet. Für die damalige Zeit. Neben der Story und dem Thema gibt es noch mehr meisterhaftes im Spiel.

Eingangs erwähnte ich die Begriffe „Bildkomposition und Pixel-Art“. Dafür war Lead-Artist Peter Chan verantwortlich, der zunächst Storyboard und Konzeptzeichnungen entwarf und somit den visuellen Stil des Spiels festlegte.

Storyboard von Lead-Artist Peter Chan
Konzeptgrafik von Peter Chan

Darauf aufbauend wurden die 3D-Modelle und die aufwendigen Animationen erstellt sowie die 2D Sprites und die Hintergrundgrafiken der Szenen gemalt.

Das originale 3D-Model des Motorrads.

Die Hintergrundgrafiken waren – wie in vielen Adventure-Spielen dieser Zeit – kleine Meisterwerke und bedienten sich bezüglich Farbkomposition und Aufbau bei der klassischen Malerei und etablierten Konzepten der Bildgestaltung.
Kraftvolle Silhouette, starke Schatten, warmes Licht, Composition in Thirds, … . Der von mir hoch geschätzte Ben Chandler – Stammgrafiker bei Wadjet Eye Games – hat vor einigen Jahren eine umfassende Analyse der Szenen veröffentlicht.

Hier einige Beispiele.

Klassische Farbgestaltung: Blue-Orange
Composition in thirds
S-Composition

 

 

 

 

 

 

 

Triangle Arrangement

Für all das fehlte mir damals beim ersten Spielen noch das Auge. Klar, schön fand ich die Grafiken da auch schon. Dass aber viele der von mir geliebten Spiele die Szenen nach klassischen Konzepten aufbauten und diese auch deshalb so eindringlich in Erinnerung blieben, erfasste ich erst später. Der Blog von Ben Chandler bietet übrigens noch weiteres Anschauungsmaterial aus anderen Adventure-Spielen.

Von den Animationen habe ich noch gar nicht gesprochen. Was die Animationskünstler um Lead-Animator Larry Ahern hier abgeliefert haben ist gewaltig. Die voll animierten Zwischensequenzen sind noch immer eine Augenweide und waren damals schlicht atemberaubend. Wo in neueren Spielen aus Kostengründen gern mal mit Schwarzblenden gearbeitet wird, wurde hier aus vollen Rohren gefeuert. Stilsicher, filmisch, comic-haft überzeichnet, zeitlos.

Was bleibt?

Tim Schafers erstes Adventure als Lead-Designer ist gut gealtert. Vielleicht besser als alle anderen LucasArts-Adventure. Die Filmhaftigkeit, die kurze Spieldauer und der Spielfluss wegen des leichten Schwierigkeitsgrades sind wie für unsere Zeit gemacht. Durch die hohen Production Values bei Grafik, Animation und Sound und der stilsicheren Umsetzung sieht Full Throttle auch heute noch richtig gut aus, im Gegensatz zu vielen Konkurrenten dieser Zeit, die eben komplett auf die 3D-Technologie gesetzt haben.
Und Dank ScummVM läuft das Spiel perfekt auf vielen modernen Systemen, sogar auf dem Smartphone.

Wie bereits Day of the Tentacle und Grim Fandago, hat auch Full Throttle von Tim Schafers aktuellem Studio Double Fine eine Verjüngungskur spendiert bekommen, in Form eines Remaster. Auch diese Version kann ich empfehlen, denn Double Fine war wie bei den anderen beiden Titeln sehr bemüht, eng am Original zu bleiben. Danke dafür (Ich schaue Dich an, unwürdige Monkey Island Special Edition!).

Im Nachhinein hätte ich mir viel lieber noch einmal dieses Adventure von Double Fine gewünscht als das enttäuschende Broken Age.

 


Quellen:

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