Thimbleweed Park
Ron Gilbert versammelt für sein Retro-Adventure alte Weggefährten, sammelt Geld bei den Anhängern und liefert einen Fan-Service par excellence. Doch ist es auch ein exzellentes Spiel?
Mystery or Parody?
Das Spiel beginnt mit einem Mord am Rand des titelgebenden Städtchens Thimbleweed Park. Das letzte Glimmen der Sonne ist am Horizont zu erkennen und taucht die Szenerie in ein mysteriöses Ambiente. Dazu passend kommen zwei Bundesagenten dazu, um den Mord zu untersuchen, denen eine Ähnlichkeit zu Agent Mulder und Agent Scully nicht abzusprechen ist. Und das ist Absicht, schließlich soll das Spiel TV-Serien wie Twin Peaks, Akte-X oder True Detective parodieren.
Viel mehr erfährt der Spieler vorerst nicht. Jetzt gilt es die Leiche, die Umgebung und die Ortschaft zu erforschen.
Start mit Licht und Schatten
Hier übernimmt nun der Spieler die Steuerung über die zwei Agenten. Jederzeit kann er zwischen ihnen wechseln. Und hier kommt nun auch die erste Merkwürdigkeit des Spiels zum Vorschein. Beide Agenten haben stets die gleichen Dialog-Optionen. Zu allen Objekten, zu allen Inventar-Gegenständen, zu allen Personen. Noch schlimmer, es ist völlig egal, wer welchen Gegenstand aufnimmt, den jeder kann alles machen. Die spielbaren Charaktere unterscheiden sich zwar charakterlich, bezüglich Rätsel und Spielfortschritt jedoch „Null“. Das wirkt merkwürdig unpassend.
Doch das Spiel gleicht diese Schwäche mit reichlich Stärken und Schauwerten aus. Durch den klassischen Pixel-Look und dem Verb-Interface wirkt das Spiel – wie in der Kickstarter-Kampagne versprochen – wie ein vergessenes LucasArts Adventure aus den späten Achtzigern. Nur die modernen Licht-, -Partikel und Parallax-Effekte zeugen von aktuellerer Herkunft. Die Dialoge sprühen vor Witz, die Szenen und Kulissen sind schön skurril, genau wie die Charaktere, die man steuert und die man trifft. Diese sind zudem herrlich vertont. Herausragend sind die Szenen mit dem Sherriff, dem Gerichtsmediziner und dem Hotel-Rezeptionisten.
Das Setting und die Charaktere
Nach und nach findet man mehr über das Städtchen und seine Bewohner heraus und warum es so heruntergekommen wirkt. Einst verhalf die Kissenfabrik des Unternehmers Chuck Edmund der Stadt zur Blüte und die von ihm erfundene Röhrentechnik, die seitdem das Stadtbild prägt. Ein Feuer zerstörte jedoch die Fabrik, sorgte für den Niedergang der Stadt und war Auslöser mehrere Erzählstränge und Geheimnisse, die der Spieler nun aufdeckt.
Das Spiel beginnt mit der Erkundung der Gegend aus den Augen der beiden Agenten. Erste Rätselketten bauen sich auf, wenn wir Beweise finden müssen, um damit die Polizeicomputer zu füttern. Gespräche mit Bewohnern der Stadt lösen einige Rückblenden aus, in denen die anderen spielbaren Charaktere – Dolores, Ransome und Franklin – eingeführt werden und wir diese erstmals steuern dürfen. Das ist ein grandioser Kniff.
Ein Verdächtiger für den Mord ist dann auch schnell gefunden und der Fall zweifelsfrei aufgeklärt. Wenn man denn den Polizeicomputern bezüglich ihrer Analyse trauen darf. Das Spiel geht jetzt in die nächste Runde. Es sind uns eine Vielzahl weiterer Locations zugänglich und wir erfahren, dass die Agenten ganz eigene Ziele verfolgen. Die Rätselketten werden komplexer. Alles läuft daraus hinaus, herauszufinden, was damals in der Kissenfabrik passiert ist.
Die Geschichten der Charaktere sind mal mehr mal weniger miteinander verwoben. Jeder Charakter hat stehts eine Liste seiner Aufgaben im Inventar, so dass man immer weiß, was noch zu tun ist. Und das ist eine ganze Menge. Teilweise können wir nun gleichzeitig zwischen fünf Charakteren wechseln. Und anders als am Anfang angenommen, kommen nun doch ihre individuellen Eigenschaften zum Tragen und man kann manche Rätsel nur mit einem speziellen Charakter lösen. An anderen Stellen muss man mehrere Charaktere so platzieren, dass ein Mechanismus ausgelöst werden kann. Der Geist Franklin ist noch mal eine Besonderheit, denn ihm stehen nur „Geist-Fähigkeiten“ zur Verfügung, wie Pusten, Kühlen, Stöhnen oder Schalter Zappen. Daraus ergeben sich noch mal ganz eigene Lösungsmöglichkeiten für Rätsel.
Mit Ransome und Dolores kommt eine weitere Besonderheit hinzu. Beide stammen aus Thimbleweed Park, kennen die Bewohner und die Geschichte der Stadt und haben ihren eigenen Blick auf die Menschen und die Vergangenheit. Ransome der Clown ist ständig am Fluchen, was wirklich witzig ist, da die Flüche in der Vertonung weggepiept werden. Es ist ein Riesen-Spaß, mit dem Clown durch die Stadt zu ziehen und alles anzuklicken und alle zu beleidigen. Dolores ist dann der Kontrast. Sie ist freundlich und geht mit offenen Armen auf die Bewohner zu. Beide sorgen dafür, dass wir immer zwei verschiedene Versionen der Geschichte erfahren, was zusammen ein ziemlich gutes Bild über die Vergangenheit und die aktuelle Stimmung der Stadt ergibt.
Der Sog
Erwähnte ich schon, dass sich die Dialogoptionen der Charaktere kaum unterscheiden? Oder dass es fast egal ist, wer welche Gegenstände aufnimmt, da nur bei ganz wenigen Rätseln entscheidend ist, wer es löst? Meist genügt es, die überflüssigen Charaktere irgendwo zu parken und nur mit einem durch die Stadt zu streifen. Und warum sollte überhaupt ein fluchender Clown den Bundesagenten helfen, einen Mord aufzuklären?
Total egal.
Thimbleweed Park schaffte etwas, das in letzter Zeit nicht viele Spiele schafften. Es löste bei mir einen extremen Sog aus, dem ich mich nicht entziehen konnte. Schlaf? Überbewertet. Arbeit? Später. Jetzt noch eine Stunde weiterspielen!
Das lag nicht nur an dem charmanten Retro-Style und den sehr hohen Produktionswerten, sondern an den vielen kleinen und großen grandiosen Ideen, dem unschlagbaren Witz an allen Ecken und Enden und dem sehr hohen Spielfluss. Es gibt so viele Locations und jeder Charakter hat so viel zu tun, dass man selten ins Stocken gerät. Die Hinweise zu den Rätseln sind nahezu perfekt in der Spielwelt verteilt. Hängt man doch mal, kann man einfach eine Hotline im Spiel anrufen. Man fließt regelrecht hindurch durch dieses großartige Spiel. Alles ist extrem gut abgestimmt.
Referenzen und Fan-Service
Haben denn Ron Gilbert und Gary Winnick für die Kickstarter Backer ordentlich abgeliefert?
Aber komplett!
Der Stil – perfekt. Die Steuerung – angemessen Retro. Nur 8 Speicherplätze – da gab es früher sogar mehr. Jeder zweite Witz ist eine Referenz an das LucasArts-Universum, an andere Spiele, TV-Serien oder die Popkultur der Achtziger allgemein. Das ganze Spiel ist eine Huldigung Ron Gilberts und der alten LucasArts-Truppe. Ja, fast eine Beweihräucherung.
Von Beginn an wird regelmäßig die vierte Wand durchbrochen und der Spieler daran erinnert, dass er ein Adventure spielt. Aber kein Sierra Adventure. Sondern eins von Ron Gilbert. RON GILBERT. Zum Teil nimmt das absurde Züge an. Aber hey, es ist nun mal ein Adventure von Ron Gilbert. Ganz am Ende darf man dann sogar noch mal die Stadt in 8-Bit Grafik-Style erkunden.
Und nach dem Spiel?
Nach dem Abspann kann man gut und gerne noch ein paar weitere Stunden im Spiel verbringen. In der Bücherei findet man unzählige Bücher, deren Titel und Texte teils von den Entwicklern, größtenteils aber von den Backern geschrieben wurden. Teils purer Nonsens, teils weitere Huldigungen, teils ernsthafte Gedanken oder kurze Stories. Im okkulten Buchladen findet man weitere Buchtitel.
Im Telefonbuch findet man unzählige Namen mit Nummern. Die wenigsten sind relevant für das Spiel (wie auch die Bücher) aber viele von den Nummern kann man per Telefon im Spiel anrufen. Zu hören sind dann kurze Anrufbeantworter-Sprüche der Backer. Auch sehr nett.
Und, falls man noch mal ungeschnitten mit Ransome fluchen möchte – inzwischen gibt es einen DLC, der den BEEP entfernt.
Was bleibt von Thimbleweed Park?
Die große Frage war: Schafft es Ron Gilbert noch einmal mit einem klassischen Adventure das Genre so zu beeinflussen, wie er es damals bei LucasArts mit Maniac Mansion und The Secret of Monkey Island getan hat? Wird es überhaupt ein gutes Spiel? Nach seinem letzten Werk The Cave (2013) vermochte man das noch nicht abschließend zu beurteilen. Die Gefahr bestand, dass es ihm so ergehen könnte, wie Tim Schafer mit seinem Broken Age Beinahe-Desaster. Kann es Ron Gilbert noch? Oder wird das Spiel ein müder Abklatsch seiner eigenen kreativen Vergangenheit?
Ron Gilbert kann es. In Zusammenarbeit mit Gary Winnick wirkt es so, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Thimbleweed Park reiht sich gnadenlos zielsicher in einer Reihe zu den beiden zuvor genannten Klassikern ein. Qualitativ. Den diesen großen Einfluss wie damals wird es nicht haben. Dazu ist das Adventure-Genre heute nicht mehr wichtig und groß genug.
Es ist erstaunlich, wie stilsicher und pointiert in diesem doch sehr dialoglastigen Spiel jeder Satz und jede Szene treffen. Lernt vom Großmeister möchte man den ganzen geschwätzigen, deutschen Adventure-Spielen zurufen, die sich ebenfalls an den Klassikern orientierten, ganz gut waren aber mit ihrem bemüht wirkenden Humor im direkten Vergleich scheiterten (Ankh, Deponia, etc.). Ron Gilbert schüttelt das locker aus dem Handgelenk. Man möchte sich verneigen.
Leider klingt es so, als wäre das Spiel nicht erfolgreich genug, um einen Nachfolger zu produzieren. Oder irgendein weiteres Adventure. Gilbert äußerte sich kritisch zur Finanzierbarkeit.
Denn jetzt, wo er gezeigt hat, dass er es noch drauf hat, wäre es zu schön gewesen, von einem weiteren Monkey Island Adventure aus der Feder von Ron Gilbert zu träumen.
-
Gesamtwertung
Fazit
Ron Gilbert verbeugt sich mit Thimbleweed Park vor sich selbst und vor der eigenen Vergangenheit. Das ist teils charmant, teils etwas weird. Und so ist auch das Spiel. Gleichzeitig ist es aber eines der besten Adventure der letzten Jahre. Und eines der witzigsten.
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